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Versicherungen:
«Das ist eines Rechtsstaats nicht
würdig»
VON VERA BUELLER
Kurt
Henggi ist fassungslos. Er soll ein durchtriebener Versicherungsbetrüger
sein? Landesweit fichiert als Lügner? Im Januar 2000 schloss der
EDV-Betreuer und Hobbyfotograf eine Hausratversicherung bei der «Winterthur» ab.
Dafür musste er ein Antragsformular ausfüllen, ein Versicherungsagent
half ihm dabei. Fragen über Fragen. Auch diese: Ob ihm in den letzten
drei Jahren schon einmal von einer anderen Hausratversicherung ein Schaden
vergütet worden sei? Henggi erinnerte sich: Ja, da war vor längerer
Zeit mal ein Einbruch in der früheren Wohnung. Gestohlen wurde nichts,
aber es gab einen Sachschaden von rund 4000 Franken. Ob er nachschauen
solle, wann dies genau war? Der Vertreter soll dann – darauf beharrt
Henggi – gesagt haben: «Nein, so genau nehmen wir es nicht».
Es
geschah dann am helllichten Tage: Im Juni 2002 brachen Diebe in Henggis
Wohnung ein. Sie liessen Video- und Fotoausrüstungen im Wert von
30'000 Franken mitgehen. Ein Trost: Henggi hatte seine Kamera-Sammlung
gut versichert. Doch als es zur Auszahlung der Versicherungssumme kommen
sollte, wurde er vom zuständigen Schadensinspektor «zur Einvernahme
aufgeboten – ich kam mir vor, wie in einem Polizeiverhör».
Der Vorwurf: Er habe das Antragsformular falsch ausgefüllt. Der
erste Einbruch in der alten Wohnung lag damals nämlich nicht schon
mehr als 3 Jahre, sondern erst 2 Jahre und 11 Monate zurück.
Keine Zahlungen Die
Folge: Der Vertrag wurde rückwirkend aufgehoben, Henggi musste
den Schaden selbst bezahlen, die von ihm geleisteten Versicherungsprämien
wurden nicht rückerstattet.
Nach geltendem Recht ist dies korrekt.
Wer nämlich beim Abschluss
eines Versicherungsvertrags eine Tatsache – egal ob absichtlich oder
unabsichtlich – verschweigt, verliert den gesamten Versicherungsschutz.
Sogar bereits erbrachte Leistungen dürfen noch Jahre später
zurück gefordert werden. Dabei muss zwischen dem Schaden und der
nicht deklarierten Tatsache nicht einmal ein ursächlicher Zusammenhang
bestehen.
Dies musste auch eine 54jährige Ehefrau
erfahren, deren Mann eine Todesfallrisiko-Versicherung über eine
Million Franken abgeschlossen hatte. Fünf Jahre später starb
er an einem Krebsleiden. Die Versicherung forderte dann die Arztberichte
ein und stellte fest, dass bei Vertragsabschluss in der ärztlichen
Untersuchung eine Hüftarthrose
verschwiegen worden war. Daraufhin wurde die Auszahlung des Geldes verweigert.
Eine Tragödie für die Witwe.
Matthias Nast von der Konsumentenschutz-Stiftung
SKS spricht gar von «shakespeareschen» Dramen,
die sich wegen dieser Anzeigepflicht-Regelung abspielten. Meist hätten
die Leidtragenden eine Kleinigkeit vergessen, etwas falsch verstanden
oder etwas nicht einmal gewusst. Auch die Ombudsfrau der Privatversicherungen,
Lili Nabholz, kennt viele solche Fälle. Die Betroffenen machten überdies
oft geltend, dass der Versicherungsvertreter sie falsch beraten und die
Kreuzchen auf dem Fragebogen selber angebracht hätte. «Aber
allein die Person, die unterschreibt, trägt die Verantwortung für
die Angaben», betont die Ombudsfrau. Denn im Streitfall stehen
immer Aussage gegen Aussage.
Betrügerische Absichten Wobei die Versicherungen primär davon
aus, dass die Versicherungsnehmer betrügerische Absichten verfolgen.
Damit wird die sonst vor Gericht geltende Unschuldsvermutung missachtet: «Das
ist eines Rechtsstaats nicht würdig», sagt Matthias Nast.
Zumal das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) die Schuldfrage weitgehend
ausklammert. Dass das Gesetz aus dem Jahre 1908 fast nur die Interessen
der Versicherer berücksichtigt,
wird inzwischen auch auf politischer Ebene kritisiert. So moniert gar
der Bundesrat «das Fehlen eines ausreichenden Gleichgewichts» im
Versicherungswesen. Nachzulesen in seiner Botschaft zur vorliegenden
Teilrevision des VVG.
Wer nun aber auf Grund dieser Erkenntnis denkt,
die Änderung des
Gesetzes sei im Sinne eines besseren Konsumentenschutzes auf gutem Wege,
sieht sich getäuscht. Vor allem der Schweizerische Versicherungsverband
läuft seit Jahren gegen die Revision Sturm. Gehör fand er unter
anderem bei der vorberatenden Wirtschafts- und Abgabenkommission (WAK)
des Ständerates. Was nicht weiter verwunderlich ist, besteht sie
doch fast zur Hälfte aus Interessensvertretern von Versicherungen.
Ausserdem ist die Versicherungsbranche eine (Referendums-)Macht im Staate
Schweiz. Also hatte sich die WAK in der letzten Sommersitzung auf einen «Gummiparagrafen» geeinigt:
Die Möglichkeit einer Leistungsverweigerung soll nicht nur auf jene
Fälle beschränkt werden, in denen ein direkter Zusammenhang
zwischen der nicht angezeigten Tatsache und dem späteren Schaden
besteht. Vielmehr wird eingeräumt, dass auch dann e in Zusammenhang
bestehen könne, wenn das eine zur Risikoabschätzung des anderen
von Bedeutung gewesen wäre. Gibt also ein Antragsteller für
eine Motorfahrzeug-Versicherung einen früheren Führerausweisentzug
nicht an und verursacht Jahre später einen Unfall, bekommt er nach
wie vor Probleme. Die Versicherung kann nämlich auf dem Standpunkt
stehen, dass sie wegen der fehlenden Angabe das Risiko beim Fahrverhalten
nicht richtig abschätzen konnte. Die Kommission hat sich bei der
Einführung des Gummiparagrafen auf die geltende Bundesgerichtspraxis
abgestützt. Oder anders gesagt: Die Gerichte sollen im Einzelfall
entscheiden.
Nicht der Weisheit letzter Schluss Zuvor wird aber noch das Parlament über dem VVG brüten.
Der bisherige WAK-Kommissionspräsident und FDP-Ständerat Fritz
Schiesser ist sich durchaus bewusst, dass noch nicht der Weisheit letzter
Schluss vorliegt. Man sei offen für Verbesserungen und Änderungen «Dafür
gibt es ja den Zweitrat und die Differenzbereinigung im Parlament.».
Immerhin schlägt die Kommission im VVG aber auch schon einige Verbesserungen
für die Konsumenten vor. Sie betreffen vor allem die Informationspflicht
des Versicherers. Ausserdem sollen bei einem Wechsel vor Ablauf des Versicherungsjahres,
die «nicht verbrauchten» Prämien künftig anteilmässig
rückerstattet werden. Dies betrifft zum Beispiel Autofahrer, die
während des Jahres einen Fahrzeug- und Versicherungswechsel vornehmen
wollen. Es sei denn, sie verursachen einen Totalschaden oder sie befinden
sich im ersten Vertragsjahr.
Kurt Henggi wäre indes froh, wenn er überhaupt
eine Autoversicherung hätte. Die «Winterthur» hob damals
nämlich «im
gegenseitigen Einverständnis» auch die Motorfahrzeugversicherung
auf. Henggi schenkte diesem Umstand zuerst kaum Beachtung und schloss
bei der «Basler» eine Auto-TCS-Versicherung ab. Doch im Herbst
dieses Jahres erhielt er von dort aus heiterem Himmel die Kündigung
auf Ende Jahr: «aufgrund eines Eintrages im zentralen Informationssystem
(ZIS)», lautete die Begründung. Das so genannte ZIS ist eine
Erfindung des Schweizerischen Versicherungsverbandes, steht allen angeschlossenen
Mitgliedern zu Verfügung und soll vor Missbrauch schützen.
Dort werden «Versicherungsbetrüger» für fünf
Jahre registriert. So auch Kurt Henggi – was man beim TCS allerdings
erst jetzt bemerkt hat. «Wir sind, wie andere Versicherer, dazu übergangen,
die ZIS-Eintragungen zu überprüfen und konsequent Kündigungen
auszusprechen», erklärt Jean-Claude Straub, Auto-TCS-Teamleiter
bei der Basler Versicherung. Dabei verfügten sie nur über eine
Namensliste der vermeintlichen Sünder. Den Grund der Eintragung
würden sie nicht erfahren, nicht einmal, welche Branche der angebliche
Betrug betreffe. Kurt Henggi: «Jetzt bin ich also als Versicherungsbetrüger
fichiert». Und mit einer solchen Fiche findet er keinen neuen Versicherer:
Er bekommt Absage nach Absage. Geht dies so weiter, kommt der Eintrag
im ZIS wegen des Motorfahrzeughaftpflichtobligatoriums nicht nur einem
Autofahrverbot- sondern auch einem Berufsverbot gleich – denn Henggi
ist beruflich aufs Auto angewiesen.
Sowohl bei der «Winterthur» wie
auch seitens der «Basler» will
man sich zum konkreten Fall «aus Datenschutzgründen» nicht
weiter äussern. Straub räumt aber plötzlich ein, «wenn
der Betroffene nachweisen kann, dass er bei den vier grössten
Auto-Versicherern nicht unterkommt und zu Unrecht im ZIS eingetragen
ist, nehmen wir ihn wieder auf.» Dezember
2003
Alles unter Kontrolle Millionenfach werden in der Schweiz Personendaten gesammelt.
- ZIS ist eine Datensammlung der Versicherungswirtschaft über
hängige und bereits abgeschlossene Straf- und Zivilverfahren.
- ZEK ist die Zentralstelle zur Kreditinformation und gibt Auskunft über
die Kreditwürdigkeit einer Person.
- Die Telekommunikationsanbieter verfügen über interne
Datenbanken und klären die Bonität eines Kunden über
die ZEK ab.
- Regional gibt es diverse Datenbanken von Grossisten z.B. über
Bauunternehmer oder Restaurantbetreiber mit Zahlungsproblemen.
Laut Datenschutz solche Personendaten-Sammlungen innerhalb einer
Branche erlaubt, sofern die Daten kontrolliert ausgetauscht werden,
aktuell und richtig sind. Es gibt für Betroffene sowohl ein
Auskunfts- wie ein Beschwerderecht.
Das Zentrale Informationssystem ZIS
ZIS ist eine Datensammlung der Versicherungswirtschaft über
hängige und bereits abgeschlossene Straf- und Zivilverfahren.
Die beim Schweizerischen Versicherungsverband angeschlossenen Gesellschaften
melden dort Personen, direkt oder indirekt an einem Versicherungsvertrag
oder Schadenfall beteiligt waren und mit einem Delikt in Verbindung
gebracht wurden. Dies betrifft sowohl Versicherte, wie Geschädigte,
Lenker, Anspruchsteller, deren Hilfspersonen und weitere Beteiligte.
In Frage kommen die folgenden Straftatbestände: Veruntreuung,
Hehlerei, Betrug, ungetreue Geschäftsführung sowie Urkundendelikte.
Auch der Versuch, die Anstiftung sowie die Gehilfenschaft führen
zu einem Eintrag.
Ein Eintrag im ZIS wird nach Ablauf von fünf Jahren ab Meldedatum
oder – bei Gerichtsverfahren – ab Urteilsdatum gelöscht.
Hauptzweck von ZIS ist es, die Versicherungsgesellschaften vor
betrügerischen Machenschaften zu schützen. Dadurch sollen
auch die Prämien entlastet werden. Vor diesem Hintergrund
ist der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte zum Schluss
gekommen, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse
der Versicherten die Bearbeitung solcher Personendaten rechtfertige.
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