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Wirtschaft:
Der Reichtum des Landes sind die Kranken
VON VERA BUELLER
Wie
bitte, unser Schweizer Krankenversicherungsgesetz (KVG) erhält einen Oskar?
Die Meldung, dass es von der deutschen Carl-Bertelsmann-Stiftung wegen
seiner Fortschrittlichkeit preisgekrönt wird und damit zu internationalen
Ehren gelangt, tönt für die Krankenkassen-Prämienzahler hierzulande wie
Hohn. Doch die Auszeichnung gilt nicht unserem teuren Gesundheitssystem
als ganzes, sondern allein dem Umstand, "dass es gelungen ist, auf allen
Ebenen Wettbewerb einzuführen" - ohne sich dabei vom Sozialstaat zu verabschieden.
Denn mit der Reform des KVG wurde nebst dem Aufnahme- und Versicherungsobligatorium
der Wettbewerb unter den Anbietern gesetzlich verankert: Ärzte, Pharmazeuten,
Spitäler und Krankenkassen sollen sich marktgerecht benehmen - auch die
Versicherten, indem sie ihre Kasse je nach Angebot wechseln.
Mit der
Preisverleihung hat wenigstens das Ausland die wirtschaftliche Bedeutung
des Gesundheitswesens erkannt. Und in dieser Domäne spielt die Schweiz
eine führende Rolle: 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) oder 40
Milliarden Franken fliessen jährlich ins Gesundheitswesen - allein die
USA (knapp 14 Prozent) und Deutschland (10,7) liegen darüber. Auch mit
den im Gesundheits- und Sozialwesen Beschäftigten erreicht die Schweiz
hinter Norwegen einen Spitzenplatz. Innert 15 Jahren stieg die Zahl um
40 Prozent auf heute 392'000. Die praktizierenden Ärzte werden von der
Statistik separat erfasst: Sie haben sich seit 1970 mehr als verdoppelt
- auf 13'622.
Sieben
getrocknete Pflaumen, ein Esslöffel Karotten
Keine
Frage, das Geschäft mit der Gesundheit boomt. Indiz dafür sind auch die
vielen Experten, die sich am Rosinenpicken beteiligen: Zum Überleben einer
Firma braucht es heute einen Gesundheitsmanager, selbst die Hausarzt-Netzwerke
kommen ohne einen Koordinator nicht aus - der macht dann die angepeilten
Behandlungs-Einsparungen glatt wett. Call-Center buhlen um Kunden, die
für 6 Franken pro Minute telefonisch wissen wollen, woher die roten Flecken
im Gesicht kommen. Nicht zu kurz kommt auch die Werbung für Versicherungen,
die "praktisch zur Familie gehören", "gesunde Ideen" haben und auch nach
dem kalten Krieg noch für "Glasnost" einstehen.
Unschlagbar
ist aber vor allem die Propaganda für die ideale Heilungsmethode. Mal
ist es Hanf, der auf seine schulmedizinische Tauglichkeit hin geprüft
wird - was ganzseitig in der Presse verkündet wird. Dann heisst das Zauberwort
plötzlich "Polarity" und Krankenschwestern müssen lernen, mit sanfter
Berührung und Druck verspannte Körper zu lockern. Oder es sind Schroth-Kuren
mit sieben getrockneten Pflaumen, einem Esslöffel geraspelter Karotten
und einem Glas Zitronensaft pro Tag der absolute Renner. Dicht gefolgt
vom heilpädagogischen Reiten oder östlichen Heilmethoden auf dem Schragen
des Dr. Yang, der eine Puls- und Zungendiagnose vornimmt.
Ein
eheblicher Wirtschaftsfaktor
Die Diagnose
über die Zukunftsaussichten unseres Gesundheitswesen fällt ungleich komplizierter
aus. In Deutschland hat sich der "Sachverständigenrat für eine Konzertierte
Aktion im Gesundheitswesen" dieser Aufgabe angenommen. Sein Befund könnte
für die Volkswirtschaft nicht besser sein: "In ihr stellt das Gesundheitswesen
einen erheblichen Wirtschaft- und Wachstumsfaktor dar." Auf der Nachfrageseite
hat der Rat eine grosse Elastizität bei den Einnahmen und Ausgaben geortet,
angebotsseitig sind es Innovationen, die für Geldfluss sorgen. Im Pflegebereich
ist es ganz einfach die demografische Entwicklung: Damit einher gehen
eine Zunahme chronischer Krankheiten, steigende Ansprüche und ein Rückgang
der Anzahl Laien-Pfleger (mehr Einpersonenhaushalte, berufstätige Frauen).
Seitens der Pflege müssen künftig "ganzheitliche Pflege, Kundenorientierung,
die wachsende Bedeutung des operativen und strategischen Controlling und
von Qualitätsmanagement-Konzepten thematisiert und interdisziplinär bearbeitet
werden", fordern die Wissenschafter.
Nicht
weiter verwunderlich ist das vom Rat prognostizierte Wachstum in der Pharmaindustrie,
angekurbelt durch Forschung und Entwicklung, Gentechnologie und durch
eine stetig wachsende Selbstmedikation. Bemerkenswert ist der Trend, dass
die neu auf den Markt kommenden Medikamente um eine Vielfaches teurer
als Heilmittel der vorangehenden Generation sind - und die Hersteller
gezielt bewährte Mittel durch neue ersetzen. In den USA gibt es bereits
Arzneien für 50'000 Dollar pro Packung.
Strukturelle
Veränderungen werden das Wachstum bei den Medizinprodukten fördern. Sie
reichen von Einweg-Verbrauchsartikeln bis zu medizinischen Grossgeräten.
Der Rückgang traditioneller Operationsverfahren und Diagnose machen das
Geschäft mit der Mikrotechnik lohnend. Die Entwicklung von Kleistmaschinen,
-pumpen und -fräsen sowie von Mikrorobotern, die sich im menschlichen
Körper bewegen, stehen an.
Goldgräberstimmung
online
Wahre
Goldgräberstimmung dürfte bei der medizinischen Telematik aufkommen. Damit
werden alle Einsätze der Computer- und Telekommunikationstechnologie bezeichnet,
die sich spezifisch medizinischen Aufgaben stellen. Die Erwartungshaltung
der Wissenschaft ist gross: Bessere Online-Informationen über existierende
Versorgungsmöglichkeiten, Nutzung von Laieninformationssysteme wie etwa
Selbsthilfegruppen, Minderung des Stadt-Landgefälles im Versorgungsangebot,
leichtere Einbindung professioneller Zweitmeinungen und Leitlinien, bessere
Arzt-Patienten-Kommunikation, Diskussionsforen, Wegfall von Doppeluntersuchungen
oder auch verspäteter Behandlungen, geringer medizinischer Aufwand, weniger
Arbeitsausfallzeiten (Wartezeiten beim Arzt). Der deutsche Sachverständigenrat
hält allerdings ob dieser Perspektiven die Bildung von nationalen und
regionalen Arbeitsgemeinschaften für unabdingbar. Solche, die sich um
die Entwicklung respektive um die Empfehlung von Standards für wichtige
inhaltlich-technische Themenkomplexe kümmern.
Alles
weist also darauf die hin, dass der Anreizmechanismus nach immer mehr
und besserem die Kostenspirale im Gesundheitswesen weiter nach oben treiben
wird. Wer mag da noch an die heilende Wirkung der Marktkräfte und des
Wettbewerbs glauben? Schliesslich bestimmen Arzt, Apotheker und Pharmazeuten
die Behandlung und damit die Nachfrage - auch nach überflüssigen Leistungen.
Allerdings wird beim Wehklagen über die Kosten gern übersehen, dass die
Leistungen der Medizin gegenüber früher oft effizienter und qualitativ
besser geworden sind oder letztlich gar günstiger. Wenn beispielsweise
die Anti-Grippe-Impfung neu per Nasenspray einfach verabreicht werden
kann, steigert das zwar Nachfrage und Kosten, bringt aber Einsparungen
am Arbeitsplatz oder bei anderen Grippe-Medikamenten. Auch sind die einzelnen
Belastungen für den Prämienzahler meist marginal: Für die Heroinabgabe
an Süchtige bezahlt er höchstens 16 Rappen, für die Alternativmedizin
1,26 Franken pro Monat (vgl. auch Grafik).
Bitte
Pille mit besonderer Heilwirkung
Wie der
jüngste Gesundheitsmonitor des GfS-Forschungsinstituts belegt, wollen
die befragten Stimmberechtigten auch gar nicht bei den einzelnen Leistungen
sparen. Ein Ausbau des Leistungskatalogs wird sogar mehrheitlich befürwortet.
Satte 71% sprechen sich etwa dafür aus, dass die Psychotherapie kassenpflichtig
werden sollte. Man ist auch bereit, in ein gutes Gesundheitswesen zu investieren
und zieht bei kostenintensiven Therapieformen die medizinischen den ökonomischen
Kriterien vor: Während 1999 nur 49 Prozent der Befragten der Meinung waren,
dass kostenintensive Therapien, die "das normale Budget eines Krankenhauses
bei weitem übertreffen" auf jeden Fall durchgeführt werden sollen, waren
es bei der Befragung im Sommer 2000 bereits 70 Prozent. Selbst die bittere
Pille "Prämien" schlucken die Befragten ziemlich unbekümmert: Nur mehr
ein Drittel gab an, dass die Ausgaben für die Prämien dauerhaft (14%,
gelegentlich 17%) ein Problem darstellen...
Oktober 2000
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