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1 Schritt zurück Inhalt Gesellschaft

 Frühkindergarten:
Gleichberechtigung in Kinderschuhen

 

VON DARIO BERLINI

 Zum politischen Alltag gehört es nicht gerade, dass Linke, Rechte, Frauenverbände, Katholiken, Protestanten, Gewerkschaften und Wirtschaftsorganisationen am selben Strick ziehen. Und völlig unüblich ist es, dass sie dabei voller Bewunderung ins Tessin blicken: Dort haben bereits Dreijährige ein Anrecht auf einen Kindergartenplatz in der "Scuola dell'infanzia". Seit die Wirtschaft wieder blüht, es an qualifizierten Arbeitsplätzen mangelt und deshalb entsprechend gut ausgebildete Mütter gefragt sind, wird das Tessiner Modell selbst von den Arbeitgebern für die Deutschschweiz zur Nachahmung empfohlen.

Dabei lebt das Ticino seinem nördlichen Nachbarn schon seit 150 Jahren exemplarisch vor, wie man Kinder ab dem dritten Lebensjahr im Kollektiv betreuen sollte. Zuerst war das "asilo" allerdings von strengen Reglementen und der Schuluniform gekennzeichnet. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die pädagogische Erkenntnis der italienischen Ärztin und Naturforscherin Maria Montessori (1870-1925) durch. Sie hatte erkannt, dass Kinder ab drei Jahren in ihrer Entwicklung besser gefördert werden, wenn sie in gemischtaltrigen Gruppen den Tag verbringen. Dann sind Neugierde, Entdeckungsfreude und Lerneifer besonders ausgeprägt. Auch soziale Kompetenz wie Team- und Dialogfähigkeit können kleinen Kindern leicht vermittelt werden. Aus heutiger Sicht ist das Montessori-Erziehungsmodell deshalb hochmodern: Auf dem Arbeitsmarkt entscheiden in Zukunft Kommunikationsbereitschaft, Flexibilität und Teamgeist über Erfolg und Karriere. top

Kinder sind keine Privatsache

So lernen denn die Bambini im Tessin schon von klein auf - in Gruppen von maximal 25 Kindern - sich gegenseitig zu helfen und Rücksicht zu nehmen. Sei's beim Spielen, sei's in der obligatorischen Mittagsruhezeit, beim gemeinsamen Essen, wenn sie beim Kochen assistieren, den Tisch decken oder abräumen. Das ganztägige Betreuungsangebot des Kantons, das übrigens auch in der Primarschule zur Verfügung steht, geht also von einem pädagogischen Ansatz aus. Dabei besteht in der Tessiner Bevölkerung Konsens darüber, dass Kinder ab drei Jahren lernen sollen, sich gesellschaftlich zu integrieren. Im ganzen italienischen Sprachraum ist die Mutter-Kind-Beziehung nämlich weniger ausschliesslich als im Norden: Die erzieherische Aufgabe der Eltern wird bewusst als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses betrachtet.

In der Deutschschweiz gelten hingegen Kinder und Familie als Privatsache, sind für die Öffentlichkeit mehr oder weniger tabu. Der Kindergarten soll nur disziplinarisch auf die Schule und den "Ernst des Lebens" vorbereiten. In jüngerer Zeit kommt ihm aber auch nördlich des Gotthards eine gesellschaftspolitische Rolle zu: Viele Frauen verzichten heute entweder auf eine berufliche Karriere oder aber sie begeben sich in Gebärstreik, weil sich Berufs- und Familienleben nicht vereinbaren lassen. Auf einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt haben deshalb ganztägige Kinderbetreuungsstätten einen hohen Stellenwert: Erwerbstätigkeit soll damit für Mütter attraktiver werden. Verwunderlich ist es also nicht, dass die bürgerlichen Parteien und Organisationen - allen voran die Arbeitsgemeinschaft Frauen (Argef) - plötzlich den Schulterschluss mit der Linken üben und landesweit einen "Paradigmawechsel in der Gleichstellungspolitik" fordern. In fast allen Kantonen sind derzeit Vorstösse hängig, die ein ähnliches Modell wie die "Scuola dell'infanzia" zum Ziel haben. top

Fast gratis

Allein über die Finanzierung wird noch gestritten: Die Arbeitgeber setzen primär auf private und betriebliche Initiativen. Derweil strebt die Linke kantonale Lösungen mit Elternergänzungsleistungen für Einkommensschwache an. Solche Leistungen werden im Tessin bereits für schulpflichtige ausbezahlt - solange bis das jüngste Kind 15 Jahr alt ist. Ausserdem kostet die Betreuung in der "Scuola dell'infanzia" die Eltern pro Monat nur gerade 50 Franken fürs Mittagessen. Zum Vergleich: Die meist privat organisierten Deutschschweizer Kinderkrippen kassieren für einen einzigen Tag je nach Einkommen bis zu 100 Franken. Den Kanton Tessin kommt sein Betreuungsangebot entsprechend teuer zu stehen: Pro Kind und Jahr veranschlagt er fast 11'000 Franken.

Wer nun denkt, in der Sonnenstube der Schweiz herrsche für Eltern der Himmel auf Erden, sei gewarnt: In der Ferienzeit existiert weder ein Kinderbetreuungsangebot noch gibt es Schullager. Und im Sommer dauern die Ferien bis zu zehn Wochen! Auch um die wirtschaftliche Emanzipation der Frau steht es trotz "Scuola dell'infanzia" nicht besonders gut: In Übereinstimmung mit dem traditionellen Familienbild - Vater als Ernährer, Mutter als Hausfrau - geben die meisten Tessinerinnen ihren Beruf auf, sobald sie schwanger sind. Nur gut die Hälfte der Frauen zwischen 15 und 61 Jahren sind erwerbstätig, gegenüber 70 Prozent im schweizerischen Durchschnitt. Selbst Teilzeitjobs sind bei den Frauen im Ticino weniger verbreitet. Auffallend ist zudem, dass verheiratete Frauen und Mütter, die ihren Beruf aufgegeben haben, nach dem 35. Lebensjahr nur selten ins Erwerbsleben zurückkehren.

März 2001

 

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