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Stromlobby:
Die Natur hat sich zu früh gefreut
VON VERA BUELLER
Eigentlich
müssten die grossen Schweizer Stromproduzenten den Naturschützern Dividenden
zahlen. Mit Beschwerden, Einsprachen und Gutachten haben Umweltorganisationen
seit den 80er Jahren den Aus- und Neubau von Wasserkraftwerken verhindert
- und damit die Branche vor riesigen Fehlinvestitionen bewahrt. Mit der Liberalisierung
des Strommarktes sind nämlich die Preise für Elektrizität derart tief gefallen,
dass die in den Bergen geplanten Pumspeicheranlagen heute unmöglich rentieren
würden. In der Strombranche ist man sich dessen zwar schon lange bewusst.
Aber wer gibt schon gerne Schwächen zu und überlässt damit dem Gegner das
Feld unversehrter Natur?
Kurzschlussreaktionen
Doch nun plötzlich kommt es zu Kurzschlussreaktionen
bei einigen Elektrizitäswerken, etwa im Misox. 15 Jahre währte die Auseinandersetzung
um den Bau des Stausees im Val Curciusa, inmitten einer grossartigen Gebirgslandschaft
zwischen Splügen- und Bernardino-Pass. Zuletzt stand nur mehr der Entscheid
des Bundesgerichtes aus. Aber die Misoxer Kraftwerke AG mochte den Grundsatzrichterspruch
über den Stellenwert von Restwasser-bestimmungen, positive Energiebilanz und
Schutzinventare nicht mehr abwarten: Angesichts steigender Projektkosten (zuletzt
bei 580 Millionen Franken) und der wachsenden Unsicherheit bezüglich der Entwicklung
im liberalisierten Strommarkt sah sich die Bauherrin ausserstande, das Projekt
weiterzuverfolgen. Die Gestehungskosten für eine Kilowattstunde (kWh) wurden
im Val Curciusa auf 18 Rappen veranschlagt. Das ist nicht nur zu teuer, um
auf dem europäischen Strommarkt bestehen zu können. Auch in der Schweiz produzieren
Wasserkraftwerke - die älteren Anlagen jedenfalls - die Kilowattstunde im
Schnitt für 5,5 Rappen.
Verwunderlich ist also kaum, dass Curciusa nach der
Greina und dem Val Madrisa innerhalb weniger Jahre das dritte grosse Wasserkraftprojekt
ist, das nicht realisiert wird. Daraus liesse sich folgern, dass die verbliebenen
grossen Bauvorhaben für Pumpspeicheranlagen ebenfalls ad acta gelegt werden
- gelten doch überall die gleichen Marktbedingungen. Beispielsweise die umstrittenen
Ausbaupläne Grimsel-West der Kraftwerke Oberhasli. Die Grimsel ist eine geschützte
Landschaft, das Stausee-Projekt um ein Mehrfaches grösser als Curciusa - und
die Risiken sind entsprechend höher. Zwar wird behauptet, dass die Produktionskosten
nach dem Ausbau für die ganze Anlage nur bei 12 Rp./kWh liegen würde, gegenüber
6 Rappen von heute. Aber das ist noch immer viel zu viel. Und in früheren
Jahren waren auch schon mal 18 bis 20 Rappen im Gespräch. Dennoch sieht Direktor
Gianni Biasiutti keinen Zusammenhang mit dem Fall Curciusa. Ausser einen:
«Wenn Migros und Coop im gleichen Dorf einen Laden eröffnen wollen und die
Migros gibt ihre Pläne plötzlich auf, dann kommt Coop doch nicht auf die Idee,
ebenfalls zu verzichten. Dann wird erst recht gebaut.»
Atomstrom verpumpen
Dann erst recht? Zweifel sind angebracht,
wenn man die Fachleute vom Bundesamt für Energie (BFE) hört, die nicht mehr
so recht an das Grimsel-Projekt glauben: «Wenn ich EW-Direktor wäre, würde
ich bei der jetzigen Versorgungslage nicht bauen», finden unisono BFE-Direktor
Eduard Kiener und sein Stellvertreter Luzius Schmid. Gleich jetzt loslegen
wollen die Oberhasli-Werke denn auch nicht; man gibt sich bis zur Fertigstellung
14 bis 20 Jahre Zeit. Mit ein Grund, warum die Landschaftsschützer vom Grimselverein
den Coop-Vergleich durchaus nachvollziehen können: Es sei besorgniserregend,
«dass Grimsel West nun das letzte der in den 80er Jahren geplanten Pumspeicherwerke
ist. Und irgendwo muss wohl jemand zumindest einen Teil des zuviel eingekauften
Atomstroms verpumpen - man wird uns also weiterhin die grossartigen Vorzüge
des Ausbaus an der Grimsel preisen...» Der Verein spricht damit die langfristigen
Atomstrom-Bezugsverträge mit Frankreich an: Mit dem billig bezogene Atomstrom
wird Wasser in die Stauseen gepumpt und später als Wasserkraft «heruntergeladen».
Die Kraftwerke Brusio könnten schon heute mit dem
Ausbau im oberen Puschlav beginnen. Die Konzession liegt vor. Aus heutiger
Sicht wäre das Werk aber nicht konkurrenzfähig - auch hier liegen die Gestehungskosten
bei 18 Rp./kWh. Doch die Planer haben Zeit: Die Konzession enthält eine Option,
die ihnen eine Bedenkfrist von acht Jahren einräumt. Bis dann, so hofft man,
habe sich die Situation auf dem Strommarkt verbessert oder zumindest geklärt.
Wer will, kann da heraushören, dass an der Machbarkeit des Projekts ein wenig
gezweifelt wird.
Auenlandschaft geht flöten
Derweil besteht das EW Obwalden (EWO)
unbeirrt auf seinen Plänen für den Ausbau des Lungerersee-Kraftwerkes: Um
die Wasserkraft optimaler als bisher zu nutzen, wollen die Kraftwerkbetreiber
neue Gewässer anzapfen und alte ertragsreicher fassen. Und das nicht zimperlich:
Weite Teile der Zuflüsse würden künftig während Wochen trockenliegen. Der
Regierungsrat hat dafür die Konzession längst erteilt, doch wurde sie von
Umwelt- und Landschaftsschutzorganisa-tionen angefochten. Nun ist es am Bundesgericht,
die Tauglichkeit des Auenlandschaftsschutzes unter Beweis zu stellen. Es geht
konkret um die Gross Laui von Giswil: Bei hoher Wasserführung wird das oberflächige
Wasser ins Grundwasser infiltriert und in der Austrocknungsphase findet der
umgekehrte Vorgang statt. Wenn man nun durch eine Fassung das Wasserregime
ändert, verändert man auch die Phasen. Dann würde das Gebiet innert kurzer
Zeit bewaldet sein und die ganze Dynamik samt Auenlandschaft ginge flöten
- wie Gutachten belegen. Verzichtet das EWO auf diese dritte Ausbauphase,
geht handkehrum deren Kosten-Nutzenrechnung bachab. Nur wenn die Natur ausgequetscht
werden darf, liegen die Gestehungskosten um 5 Rappen unter jenen von Curciusa.
EWO-Direktor Gerold Schädler räumt allerdings freimütig ein, dass der Preis
auch im günstigsten Fall noch das Doppelte des europäischen Mittelpreises
betragen würde. Fügt aber lakonisch hinzu: «Wir leben im Zeitalter des Sharholder
values - alles muss innert drei Monaten rentieren, sonst ist es kein Geschäft.»
Im gehe es indes um langfristige Investitionen, und er verweist auf ausländische
Stromproduzenten, die neuerdings Schweizer Konzessionen aufkauften. Sie wüssten
warum: «Schliesslich befinden wir uns in einer Zeit, da Deutschland den Ausstieg
aus der Atomenergie diskutiert.»
Ausbaupläne künstlich am Laben halten
Dieser Satz erklärt das Gebaren der Stromlobby:
Keiner weiss zwar, was auf die Branche zukommt, doch man redet sich optimistisch
in die Zukunft und hält alle Optionen offen. Wo immer möglich halten die
Elektrizitätstrategen deshalb ihre Ausbaupläne künstlich am Leben. Kommt
es tatsächlich zu einem Ausstieg aus der Atomenergie und setzt sich dereinst
eine CO2-Abgabe europaweit durch, dann gewinnt die Wasserkraft wieder
an Bedeutung. Selbst jene Projekte, die unlängst begraben wurden, würden
wieder interessant. Denn es waren nicht Umweltschützer, die unter anderem
im Val Curciusa die Pläne begraben haben, sondern kühle Rechner. Sie begutachten
ganz einfach die Marktchancen ihres Produkts. Und als erneuerbare Energie
hat Wasserkraft auf jeden Fall Zukunft. Der Bundesrat hatte dies schon
frühzeitig erkannt als er mit seinem Programm Energie 2000 eine Erhöhung
der mittleren Stromproduktion aus Wasserkraft um 5 Prozent anstrebte.
Das Ziel wird nur zu drei Viertel erreicht werden. Wenn aber eine Energieabgabe
von 0,2 bis 0,6 Rappen pro Kilowattstunde eingeführt wird, fliessen künftig
zwischen 300 und 900 Millionen Franken pro Jahr in Pumpspeicher- und andere
Anlagen. Denkbar ist zudem, dass man der aus Wasserkraft erzeugten Elektrizität
dereinst einen höheren Preis per se zubilligt, so wie die Solarenergie
durchaus teurer sein darf. Dann sind Gestehungskosten von 18 Rappen/kWh
ohnehin kein Hindernisgrund mehr. So dürften denn in der kommenden Ingenieurgeneration
sämtliche Projekte, mit denen Hochtäler unter Wasser gesetzt oder Zuflüsse
ausgequetscht werden sollen, wieder aufliegen. Und die Umweltschützer
haben sich über die kurzfristige Wirkung von Liberalisierung, Stromüberfluss
in Europa und Tiefstpreisen zu früh gefreut.
Mai 1999
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