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Alle zehn Meter steht ein Mensch im Freizeitwald
Je unwirtlicher die Städte, desto wichtiger sind die Naherholungsräume. Doch wenn der Nutzungsdruck auf diese Oasen zunimmt, ist deren Existenz gefährdet.Vor allem stadtnahe Wälder sind davon betroffen: Die Invasion der Freizeitmenschen stresst den Wald.
Von Vera Bueller / 12. August 2004
Hätten die Schöpfer des Zivilgesetzbuches 1907 gewusst, wie sich die Gesellschaft zur Freizeitgesellschaft wandeln und was sie dereinst unter Freizeitgestaltung verstehen würde, hätten sie den Gesetzeserlass zur Nutzung des Waldes wohl anders abgefasst. Doch damals konnte niemand ahnen, welche Folgen das in Artikel 699 verankerte freie Zugangrechts zu den Schweizer Wäldern haben wird. Denn es sind längst nicht mehr nur Pilz- und Beerensammler oder Naturfreunde, die den Wald nutzen. Er dient heute als Kulisse für den Biologieunterricht vor Ort, für Painting-Ball-Kriegsspiele, Technoparties, Pfadfinder- und Überlebungsübungen, für Picknick-Ausflüge, Mountainbike-Rennen, Triathlon- oder Orientierungsläufe. «Und jedes Jahr kommen neue Trend-Sportarten hinzu», stellt Christian Gilgen vom Forstamt beider Basel fest. Neuerdings würden illegale, so genannte Sternfahrten mit Trialtöffs durchgeführt – via Internet organisiert.
Nach einem schönen Wochenende böte sich den Forstequipen oft ein trauriges Bild. Wobei «in der Regel nicht der Einzelne den grossen Schaden verursacht, sondern die Summe aller Aktivitäten», präzisiert der Kreisforstingenieur.
Suche nach unberührter Natur
Insbesondere im dicht besiedelten Mittelland ist die Beanspruchung durch den Freizeitmenschen gross. Denn je mehr die Landschaft verstädtert, desto grösser ist das Bedürfnis der Bewohner dieser Ballungsräume nach «unberührter Natur». So konzentriert sich in städtischen Agglomerationen nicht selten die gesamte Freiraumerholung mangels Alternativen auf den Wald in nächster Nähe – mehr als 70 Prozent der Bevölkerung lebt heute in urbanen Gebieten.
Sehr stark belastet ist beispielsweise der Basler Allschwiler Wald – einer der wenigen Eichen-Hagebuchen-Wälder der Region. Jedes Jahr durchwandert eine viertel Million Menschen diese Freizeit-Arena, wie eine Studie der Universität Basel zeigt. «Wenn man die Zahl der Besucher auf eine Are umrechnet, würde alle 10 Meter ein Mensch im Wald stehen», veranschaulicht Christian Gilgen das Problem. Einzelne Gebiete sind so stark frequentiert, dass kein Dickicht mehr wächst und der Waldboden fast platt gedrückt ist – die Bodenvegetation hat um 60 Prozent und die Artenvielfalt bei Pflanzen um 40 Prozent abgenommen. Fehlende Arten der Bodenvegetation sind nicht etwa seltene Pflanzen, sondern ganz gewöhnliche wie die Waldschlüsselblume, das Waldveilchen, das Lungenkraut oder der Aronstab. An einigen Stellen ist die Sicht über mehrere hundert Meter bis zum nächsten Waldrand frei. Da sind Hasen und Bodenbrüter längst verschwunden, derweil hat das Wild die Flucht in Richtung Elsass angetreten: Im Leimtal-Gebiet treffen 3500 Hunde auf gerade mal noch 250 Rehe.
Mobilität gefährdet noch intakte Gebiete
Fazit der Basler Studie: «Die Nutzungsintensität in Teilgebieten des Allschwiler Waldes übersteigt die natürliche Regeneration von Flora und Fauna». In einigen Gebieten wird es bereits in wenigen Jahrzehnten gar keinen Wald mehr geben, wenn die Übernutzung anhält. Das hätte zur Folge, dass heute noch intakte Gebiete ebenfalls unter Nutzungsdruck gerieten. Denn für den mobilen Menschen sind Distanzen kein Hindernis mehr. Und am neuen Ort braucht es dann auch wieder Parkplätze, Wege, Bänke, Abfalleimer, Gasthäuser und Toiletten.
Was tun? «Wir wollen die Multifunktionalität der Wälder beibehalten», betont Christian Gilgen, denn sie leisteten einen Beitrag zur Volksgesundheit und seien ein Teil der kulturellen Identität. Tatsächlich ist der Wald bei der Bevölkerung sehr beliebt, wie eine BUWAL-Studie belegt: Über 96 Prozent besuchen den Wald im Sommer, 87 Prozent im Winter. Nach der Wichtigkeit der Waldfunktionen gefragt, wird bereits an dritter Stelle die Erholungsleistung erwähnt – nach Luft/Sauerstoffproduktion und ökologischen Funktionen. Und Christina Zeidenitz von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL hat in einer schweizweiten umweltpsychologischen Studie über «Freizeitaktivitäten wegen oder gegen Natur und Landschaft?» festgestellt, «dass das Erleben von Natur- und schöner Landschaft eines der wichtigsten Motive ist, draussen aktiv zu werden. Dabei ist auch die Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag wichtig.»
Doch Bruno Baur von der Universität Basel stellt diese Aussagen in Frage: «Heute dient der Wald vielen nur noch als Kulisse für Fun und Action», sagte er an der Vernissage zum Waldbuch «Freizeitaktivitäten im Baselbieter Wald: Ökologische Auswirkungen und ökonomische Folgen», das die Forschungsergebnisse der Uni Basel zusammenfasst. Umfragen hätten gezeigt, dass höchstens sechs Prozent der Befragten noch Wald als Holz- und CO2-Produzenten erwähnten.
Waldmanagement statt Holzkontrolle
In einem sind sich alle Untersuchungen einig: Die veränderten Nutzungs- und Bedürfnisansprüche erfordern ein Umdenken im Bereich der hoheitlichen Waldaufsicht, weg von der reinen Holzkontrolle, hin zu einem umfassenden Waldmanagement. Dazu gehörten Lenkungsmassnahmen für Besucher wie auch das Ausscheiden von Reservaten mit Nutzungsverzicht oder Nutzungsintensivierung. «Möglich ist, dass rings um Agglomerationen Gebiete ausgeschieden werden, in dem ein leicht anderes Gesetz gilt, das mehr forstliche Bauten und gezielte Rodungen erlaubt», sagt Claire-Lise Suter Thalmann von der Forstdirektion des BUWAL. Noch brütet aber die eigens gegründete Arbeitsgruppe «Freizeit und Erholung» über Lösungsansätze wie: Kommunikationsstrategie, eine Internet-Informationsplattform, Kampagnen, die sich an die nicht organisierten Freizeitler richten – an die Hündeler, Reiter, Kanufahrer, Wanderer oder auch Mountainbiker. Denkbar ist überdies die Einrichtung attraktiver Feuerstellen mit Brennholz. Das würde die Zahl wilder Feuerstellen und die Abholzschäden vermindern. Um andererseits die intakten Gebiete zu erhalten, könnten einzelne Wege gar stillgelegt werden. Ferner könnten einzelne, von Übernutzung bedrohte Flächen eingezäunt werden.Und weil die Freizeitmenschen nicht nur den Wald belasten, sondern auch die Landschaft durchqueren, werden Lösungen in einem grösseren Umfeld gesucht.
Wo alle Gassi gehen
Derweil wurde an einigen Orten bereits gehandelt. Etwa dort, wo alle Gassi gingen: Die Reinacher Heide ist das artenreichste Naturschutzgebiet im Kanton Basel-Landschaft und eine der wichtigsten Grundwasserschutzzonen. Auf weniger als einem halben Quadratkilometer Fläche kommen über 600 verschiedene Pflanzenarten vor. Die Zahl der Tierarten umfasst ein Mehrfaches, viele davon sind vom Aussterben bedroht. Die Kantonsregierung erliess eine Schutzverordnung für die Heide, in der wegen des «zunehmenden Erholungsdrucks» ein totales Hundeverbot verfügt wurde. Auch patrouillieren heute in allen Basler Wäldern Flurpolizisten, die fehlbare Freizeitmenschen verzeigen.
Die Finanzpolitik befasst sich ebenfalls mit dem Thema. Denn durch die vielfältigen und zunehmenden Freizeitaktivitäten entstehen Forstbetrieben und Eigentümern von Wäldern in Stadtnähe und mit hoher Nutzungsintensität jedes Jahr ungedeckte Mehrkosten und Mindererlös von 120 bis zu 1000 Franken pro Hektare.
Bislang sind diese Freizeit- und Erholungskosten den Nutzniessenden weitgehend unbekannt. Werden sie aber über die durch sie verursachten Kosten ins Bild gesetzt, so sind sie durchaus bereit, die Betriebsleistungen zu honorieren. Dies kam bei einer Befragungen durch das Berner Beratungsbüro Pan heraus: «60 Prozent der Waldbesucher würden freiwillig etwas für gewisse Dienstleistungen wie Feuer- und Bratstellen oder waldbauliche Arbeiten zahlen» sagt Projektleiter Andreas Bernasconi. Auch in anderen Umfragen haben sich Sportler, Hundehalter oder Spaziergänger bereit erklärt, bis zu zwölf Franken pro Monat für das Waldvergnügen auszugeben. Die Frage ist nur, wie man dieses Geld einziehen will. Etwa mit Eintrittsschaltern am Waldrand?