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VON VERA BUELLER Dazu gehören auch vom Menschen geschaffene Sehenswürdigkeiten, wie eben die «Chiesa rossa», ein national geschütztes Baudenkmal. Ihre Wände im Innern zieren zahlreiche Fresken, darunter Ornamente mit voneinander getrennten Konsolen um mehr Raum vorzutäuschen – es waren frühe Versuche einer 3D-Malerei. 200 MIllionen Jahre Erdgeschichte Keine Frage, es ist ein historischer Ort; mit Funden, die bis ins Ende des 4. Jahrhunderts zurückreichen. Aber was sind schon ein paar Jahrhunderte im Vergleich zu dem, wohin uns die Wanderung gleich führen wird? Edda Vanini scheint Gedanken lesen zu können: Sie entledigt sich ihres Halsfoulards, rollt es zu einem Wulst und unterteilt ihn in Zeitzonen, indem sie mit dem Finger Abschnitte markiert: «Bis hier würde das Paläozoikum reichen, vor 340 bis 225 Millionen Jahren. Dann folgt das Mesozoikum mit der Trias-, Jura- und Kreidezeit.» Vor rund 64 Millionen Jahren habe dann das Känozoikum begonnen, aufgeteilt in Tertiär und Quartär. Der Mensch tauchte vor 2 Millionen Jahren auf. Was schliesslich für die Zeit bis heute noch bleibt, ist nur mehr die Spitze des Halstuch-Wulstes. Mit dieser Demonstration hat Edda Vanini die Basis gelegt für die bevorstehende Exkursion durch 200 Millionen Jahre Erdgeschichte. Wir wandern durch den Wald, vorbei an den kaum mehr zu erkennenden Mauerresten einer mittelalterlichen Burg, weiter zur 1820 gebauten Strasse, die durch Erosion an mehreren Stellen unterbrochen ist. Neue Wege wurden erstellt, teils mit Hilfe von Arbeitslosen-Arbeitseinsätzen. Geplant ist auch ein Wanderweg, der direkt ins idyllische Muggiotal führen soll – ohne Umweg über den tobenden Verkehr oben in Morbio. «Aber es fehlt uns dafür ein Sponsor», sagt Edda Vanini. Dann fährt sie fort, die Vegetation zu erklären – fast scheint es, als würde sie sämtliche Pflanzen persönlich kennen: Hirschzunge, Mäusedorn, Kornelkirsche, Herbstzeitlose, grüner Nieswurz, Orchideen… Hier leben viele geschützte, teils gar auf der roten Liste stehende Pflanzen, Tier- und Pilzarten. Was Wunder, bei dieser Vielfalt von Lebensräumen: Stehende Gewässer, Stromschnellen, Wasserfälle, Feuchtzonen, Geröllhalden, Felsen, Tropfwände, Erdrutsche, Gebüsch, Gestrüpp und Wälder. Plötzlich stehen wir am Rand der Schlucht, blicken hinab zur Breggia. Der Bergbach, der sich vom Monte Generoso in das enge Muggiotal hineingefressen hat, wirkt an diesem milden Frühlingstag harmlos. Doch meist ist er wild, gefährlich und vor allem kraftvoll. Wie sonst hätte er über Jahrtausende die Gesteinsschichten freilegen und diesen Querschnitt durch die Erdgeschichte schaffen können! Was man sieht, sind Sedimente, die sich lange vor der Alpenbildung in der Jura- und Kreidezeit im Tethysmeer abgelagert hatten. Ein Meer, das einst die Kontinente Afrika und Europa trennte. Wir klettern nach der Steinbrücke «Punt da Canaa» hinunter zu den Resten einer alten Mühle und sehen übereinander geschichtete weisse Gesteinsformen, ineinander verkantete Falten und Krümmungen. Das erinnert an die zerknautschte Schnauze eines Autos nach einer Frontalkollision. Edda Vanini lacht: «Ja, so ähnlich war es. Die Schichten haben sich aufgetürmt, als der afrikanische und der europäische Kontinent aufeinander trafen.» Logisch wäre ja, dass sich Neues über Älteres lagert. Doch hier liegen die ältesten, rund 190 Millionen Jahre alten Gesteinsschichten, jene mit einem hohen Anteil an Mergel, zu Oberst. «Kaum vorstellbar, wie stark die Kräfte waren, als die Alpen gebildet und diese Gesteinsmassen hier gefaltet und verkippt wurden – so dass Altes auf Neues zu liegen kam», bemerkt Edda Vanini. Je weiter talabwärts es geht, desto reicher an Fossilien soll der Kalkstein angeblich sein. Auf die Frage, ob man hier tatsächlich noch Versteinerungen finden können, schmunzelt Edda Vanini verheissungsvoll: «Wenn man weiss wo, dann schon…» Allerdings seien die meisten Versteinerungen mikroskopisch klein. Doch dann kraxelt sie behänd über einige Felsen und zeigt auf deutlich erkennbare Ammoniten. Wir verharren eine Weile ehrfürchtig – wie klein und unbedeutend der Mensch doch ist, angesichts der Erdgeschichte von Hunderten Millionen von Jahren. Am anderen Ufer hängen knollig-wellige, dunkelrote Gesteinsschichten; talabwärts geneigt, so wie wenn sie gleich umkippen würden. Sie gehören zu den so genannten Rosso-Ammonitico-Formationen. Derweil zeigt Edda Vanini auf die Spuren einer unterseeischen Lawine und bemerkt den fragenden Blick der Reporterin: «Es handelt sich hier um eine ungeheure Steinlawinen, die vor 170 Millionen Jahren quasi unterirdisch abging. Sie hat neun Meter hohe, chaotisch übereinander gelagerte Schichten gebildet.» Wir kommen zur wilden, unwegsamen «Buzun dal Diavul», der Teufelsschlucht, über die ein wieder aufgebauter, bei jedem Schritt schwingender Holzsteg führt – die «Punt dal Farügin». Der Blick 35 Meter in die Tiefe, wo das Flussbett liegt, ist ebenso beeindruckend wie Schwindel erregend. Auf der Höhe des grossen Steinbruchs erhebt sich majestätisch eine weisse Wand aus Biancone, einem fast reinen Kalkstein. Bis hierhin haben wir 50 Millionen Jahre zurück gelegt – wenn auch nicht chronologisch. Die Wege führen auf und ab durch den Park, vor und zurück in der Erdgeschichte. Schliesslich erreichen wir noch eine Reihe von Scaglia (Splitter), mergelige Felsen, die unter den Witterungseinflüssen erodiert sind und, wie Vanini sagt, eine reiche Fauna an Mikofossilien enthalten. Und zum wiederholten Male betont sie, dass das Sammeln von Fossilien, wie auch von Pflanzen, Tieren oder Pilzen im ganzen Park streng verboten ist. Und dann, nicht zu übersehen, steht das «Monster» da, inmitten einer unwirklich anmutenden Mondlandschaft: die alte Zementfabrik. Ab den Sechzigerjahren, zu Zeiten des Wirtschaftswunders, wurde hier im Tag- und Untertagbau Kalkstein für die Zementproduktion abgebaut. So lange, bis die «Chiesa rossa» oben bei Castel San Pietro abzurutschen drohte. 2003 hat der Zementkonzern Holcim die Bausünde endlich stillgelegt, jedoch nicht vollständig abgebrochen. Die noch vorhandenen Bauten, darunter der Ofenturm und der Stollen, werden derzeit in einen zwei Kilometer langen didaktischen Rundweg integriert «um die Herstellung von Zement zu demonstrieren», erklärt Edda Vanini. Die Eröffnung des «Percorso del cemento» ist für nächstes Jahr geplant – grösstenteils finanziert von Holcim, die aus Imagegründen das Vorzeigeprojekt lanciert hat. Wir passieren einige Biotope und einen kleinen See, bestaunen die vielen Kaulquappen, die speziellen «Taucherli» mit roten Schnäbeln und die von Privaten ausgesetzten Schildkröten – die das biologische Gleichgewicht gefährden. Dann erreichen wir kleinere, grösstenteils stillgelegte Handwerkbetriebe, die sich hier nieder gelassen hatten, um die Wasserkraft des Flusses zu nutzen. Der Breggia entlang klapperten einst 25 Anlagen, in denen Getreide, Mais, Kakao, Kastanie und Tabak verarbeitet, Zement und Papier produziert wurde. Und so endet die Wanderung bei der Mühle des Ghitello, deren Räder sich nach jahrzehntelangem Stillstand seit kurzem wieder gelegentlich drehen. Hier sind auch die Verwaltung und das Informationszentrum des Parks untergebracht. Dann geht es zurück in die Gegenwart, zum Einkaufskomplex Centro Breggia. Kümmerlich fliesst die Breggia daran vorbei, eingepfercht in ein Bett aus Zement – der gewiss aus dem Millionen Jahre alten Kalkstein der Schlucht gewonnen wurde. Juni 2011
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