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Unter der Kapellbrücke weinen die Krokodile
Die Tourismus-Maschine Luzern oder Ein Brand, der mehr Anstoss zur Busse als Anlass zur Trauer geben könnte.
Von Vera Bueller / 26. August 1993
August 1993. Bundespräsident Adolf Ogi kam vergangenen Samstag nicht mit leeren Händen an die Internationalen Musikfestwochen nach Luzern: Er brachte für die leidgeprüfte Stadt ein Geschenk mit, das genau neun Jahre älter ist als die abgebrannte Kapellbrücke. Die PTT geben nämlich eine Sondermarke mit dem hölzernen Brückenübergang als Motiv aus – Frankaturwert 80 Rappen plus 20 Rappen zugunsten des Wiederaufbaus des Luzerner Wahrzeichens. Der Einfachheit halber verwenden die PTT für das Postwertzeichen dieselbe Illustration, die sie bereits 1960 einmal auf eine Marke gedruckt hatten. Neun Jahre später renovierten die Luzerner ihre Kapellbrücke – wie schon oft in den Jahrhunderten zuvor. Dabei wurde der Unterbau total und der Oberbau unter Verwendung alten Holzes zu zwei Dritteln erneuert. In der Schreckensnacht vom 18. auf den 19. August 1993 ist also in Luzern eine Brücke abgebrannt, die nicht älter als 24 Jahre war.
Dies hindert allerdings die nationalen und internationalen Medien nicht, von einem «unwiederbringlichen Verlust», vom tragischen Untergang eines über 650 Jahre alten Wahrzeichens zu sprechen und zu schreiben. Ganz Luzern ist angeblich in Tränen aufgelöst. Weggewaschen wurde dabei auch die Erinnerung an die teils massive Kritik an vergangenen Restaurierungen der «Originalgemälde» im Giebel der Brücke, als man die Bilder nicht immer zu ihrem Besten übermalt hatte – ganz abgesehen von deren bescheidenem künstlerischem Wert.
Wolldecken und Milchpulver nach Luzern schicken…
Die Katastrophenbeschwörung war so effizient, dass man sich fragen muss, wie lange es noch dauert, bis Japaner, Amerikaner und Kuwaiter den Eingeborenen von Luzern Wolldecken und Milchpulver schicken. Jedenfalls laufen in der Innerschweiz bereits diverse Sammlungsaktionen auf Hochtouren. Nun ist Radio Pilatus auch endlich die Sorge los, wie es sein Programm gestaltet, denn den ganzen Tag über darf es jetzt die Namen von Spendern und Spenderinnen über den Äther verbreiten. Ringiers LNN hat ebenfalls die Gunst der Stunde erkannt und versucht, mit der von ihr lancierten Sammelaktion «Wir helfen mit!» ihre Auflage zu bewegen. Und Fleurop ruft mit einem ganzseitigen Inserat dazu auf, dem Stadtpräsidenten «zum Trost» Blumen zu schicken – er erhielt 47 Sträusse und einen Fleurop-Check über 2500 Franken. Hotelierverein und Banken haben selbstverständlich auch tief in die Tasche gegriffen. So geriet die Stadt schon wenige Stunden nach dem Brand in die dumme Lage, widerwillig – wie der Stadtrat sagt – ein Spendenkonto einrichten zu müssen, weil viele Leute aus Mitgefühl einen kleinen Trauerbeitrag leisten wollten. Damit setzt sich die Behörde freilich dem Vorwurf aus, sich ihre Staatsaufgaben über Spenden finanzieren zu lassen und von der Brandnacht auch noch finanziell zu profitieren. Schliesslich sind zwei bis drei Millionen Franken – soviel kostet in etwa der Wiederaufbau der Brücke – bei einem Jahresbudget von 610 Millionen Franken durchaus zu verkraften. Aber selbst Adolf Ogi will sein Mitgefühl manifestieren, und darum erscheint bereits am 7. September die Sondermarke mit Luzerns Wahrzeichen.
Die Begräbnisstimmung ist mittlerweile in der Leuchtenstadt in eine wahre Euphorie des «Packen wir es an» umgeschlagen, wie man sie sonst in der Luzerner Politik vermisst: Bereits zur nächsten Fasnacht, dem vielleicht noch wichtigeren Markenzeichen der Innerschweizer Metropole, soll die Brücke wieder die Reuss queren – zwar mit neuem, hellem Holz, aber sonst das Stadtbild unverändert prägend wie die Jahrhunderte zuvor.
Nur das Stadtbild selbst ist nicht mehr dasselbe: Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden die ersten Brocken aus dem ältesten Mauerring herausgerissen, und neben die traditionellen Gasthöfe der Innenstadt trat das erste Hotel am Gestade des Sees. Luzern wurde vom Tourismus entdeckt und musste sich den Bedürfnissen der verwöhnten und weitgereisten Gäste anpassen. Besonders eindrücklich geschah dies bei der Umgestaltung des Seeufers.
Eine Touristenattraktion erster Güte musste weichen
Als Vorbild diente die Rue de Rivoli in Paris: Eine Quaipromenade im spätklassizistischen Stil mit vornehmen Hotels, wie sie die Engländer liebten, wurde am See realisiert. Zu diesem Zwecke hatte man einen Teil des Ufers aufgeschüttet. Dabei musste auch eine – aus heutiger Sicht – Touristenattraktion erster Güte weichen: Die einst bis zur Hofkirche reichende Holzbrücke wurde Stück um Stück abgerissen, bis auf den dieser Tage abgebrannten Rest, eben die Kapellbrücke.
Immerhin ging der städtebauliche Wandel bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit einem Boom des qualitativ hochstehenden Tourismus einher, alles, was Rang und Name hatte, strömte nach Luzern, und Luxushotels schossen innert kurzer Zeit wie Pilze aus dem Boden. So gehörten Napoleon III., Königin Viktoria, Arthur Schopenhauer und Leo N. Tolstoi ebenso zu den Gästen wie der luxusgewohnte Richard Wagner, der sich gleich für mehrere Jahre in der Stadt niederliess.
Obwohl traditionell eine liberale Stadt in einem konservativ beherrschten Kanton, ist es dem Hauptort nie gelungen, eine Industrie anzusiedeln. Während die katholisch-konservative Herrschaft im Kanton aus Angst vor der sozialistisch verseuchten Arbeiterschaft bewusst eine industriefeindliche Politik betrieb, war die Stadt Luzern schon aus geographischen Gründen für eine Industrieansiedlung ungeeignet. Also musste man auf die Karte Tourismus setzen, was bald in eine Fremdenhörigkeit ausartete, die selbst die Luzerner Geistlichkeit über den eigenen Schatten springen liess: Als sich Graf von Girgenti, der Bruder des neapolitanischen Königs, 1871 im Hotel «Schwanen» erschoss, wurde die Leiche – entgegen jahrhundertealter Usanz und kanonischem Recht – mit allen Ehren eingesegnet.
Und als Kaiser Wilhelm II. 1893 durch die Stadt reiste, hatten die Behörden zuvor in einem Rundschreiben alle Eigentümer der am See und auf den Anhöhen gelegenen’ Grundstücke aufgefordert, ihre Häuser in passender Weise zu beflaggen. So prangte denn an der Seefront des Hotels «National» unter anderem ein übergrosses eisernes Kreuz mit der Umschrift «Gott mit uns».
Heute sind gemäss einer Studie des mit dem Verkehrsverein eng liierten Public-Relations-Unternehmens Becker 15,3 Prozent aller Arbeitsplätze in der Stadt Luzern in irgendeiner Form direkt oder indirekt vom Tourismus abhängig. 15 bis 23 Prozent des Einkommens der Luzernerinnen und Luzerner stammen aus dem Geschäft mit den Gästen aus der Fremde. Und die Stadt selber nimmt 19 bis 29 Millionen Franken an Steuern aus dem Tourismus ein.
Immer mehr Touristen weilen immer kürzer in der Stadt
Allerdings sind die Tourismusarbeitsplätze von geringer Produktivität. Und überdurchschnittlich gross ist die Zahl der Saisonstellen, denn 80 Prozent aller Übernachtungen fallen in die Sommerperiode. Dies trotz der Bemühungen des lokalen Verkehrsvereins, flaue Zeiten im Winter mit Gags zu überbrücken und eben mal aus dem EWR-Röstigraben Profit zu schlagen, indem er die Romands während des letzten Winters zum halben Preis in die Innerschweizer Metropole einlud.
Welche «Nation» in Luzern gerade gefragt ist, hängt massgebend vom Direktor des besagten Vereins ab, Kurt H. Illi: Derzeit grast er das Gästepotential im Fernen Osten ab – entsprechend viele asiatische Arbeitskräfte sind vorübergehend in Luzerns Uhren- und Schmuckgeschäften angestellt. In der Fremde, das heisst in einer Hongkong-Dschunke, wirbt der gelernte Betriebswirt ebenso gerne mit einem Alphorn (weil es so «telegen» ist, wie Illi sagt) für die Leuchtenstadt wie mit einer Schweizer Folkloregruppe auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking – dort, wo unlängst noch Studenten massakriert wurden. Er scheut sich auch nicht, den reichen Kuwaitern Luzern als Regen-Ferienort anzubieten und US-General Stormin Norman Schwarzkopf als Ehrengast bei sich, dem Smilin Kurt, zu empfangen.
Vor allem aber setzt Marktschreier Illi auf den Tages- und Billigtourismus, auf Gäste, die sich durchschnittlich während anderthalb Stunden in Luzern aufhalten. Doch es «mehren sich die Anzeichen, dass die anhaltend starke Zunahme des Tagestourismus wegen der damit verbundenen Belastungen bei Verkehr und Umwelt in der betroffenen Bevölkerung auf zunehmenden Widerstand stösst». Schon 1991 wurde in einer Untersuchung der Hochschule St. Gallen über die Wirtschaft im Kanton Luzern gewarnt: Für die Zukunft könnte dies Folgen haben, «denn nur in einem Lebensraum, der als Arbeits-,’ Wohn- und Erholungsraum für die Einheimischen attraktiv bleibt, werden sich längerfristig auch die Gäste wohl fühlen».
Die Politiker überlassen das Feld dem Verkehrsverein
Hin und wieder interessiert sich eine Gruppe Reisender für diesen Lebensraum und lässt sich durch die Altstadt schleusen, vorbei an lokalhistorisch bedeutenden Stätten, die freilich längst ihrer Funktion beraubt wurden: Heute finden nur mehr Allerwelts-Kleiderboutiquen und Watches-and-Souvenirs-Läden mit «cuckoo-clocks», bayrischen Bierhumpen, Swiss Army Officers’ Knifes und alpinen Musikdöschen (immer wieder gern gehört: Strauss’ «Tales from the vienna woods») oder Rolex, Piaget, Baume & Mercier usw. Beachtung. Neuerdings, seit der apokalyptischen Nacht vom 19. August, sind auch T-Shirts mit dem Aufdruck «The day after» und entsprechendem schwarzverkohltem Sujet im Angebot. Dies ist Luzerns entstelltes Gesicht.
Hier brennt – im übertragenen Sinne – die Altstadt täglich. Und eben dieser Verlust alter Werte manifestiert sich nun in einer, oberflächlich betrachtet, übertriebenen Trauer um den «Verlust» des Luzerner Wahrzeichens. Der Kulturschock hat nicht eigentlich durch den Brand der Kapellbrücke stattgefunden, sondern vorher – durch die Vermarktung ausgerechnet dieses Baudenkmals. So macht sich allmählich auch Unmut darüber breit, dass in Luzern Tourismus und Politik weitgehend getrennt sind: Jedenfalls überlässt es der Stadtrat vollumfänglich dem privaten Verkehrsverein, Luzern zu Markte zu tragen – ohne jede demokratische Kontrolle und ohne Mitspracherecht der betroffenen Bevölkerung.
Tatsächlich fällt die Identifikation mit den ständigen Purzelbäumen eines Kurt Illi schwer: etwa, wenn er samt Kleidern in den See steigt und ein Champagnerglas, gefüllt mit Seewasser, zum Beweis vierwaldstättischer Reinheit trinkt. Oder wenn er den Raddampfer «Schiller» als Werbegag von Piraten kapern lässt. Oder wenn er dem Wasserturm – bei Swatch in Frankfurt abgeguckt – ohne Bewilligung und per Helikopter eine Riesenkrawatte umhängt (und damit die dort nistende Kolonie seltener Mauersegler vertreibt, was selbst der Brand der Kapellbrücke nicht geschafft hat). Selbstverständlich geschieht dies immer alles nur vor laufender oder klickender (Ringier-)Kamera. Auch dann, wenn, wie dieser Tage, «ganz Luzern weint»: Illi weint vor der Kamera.
Luzern wie ein Stück Seife vermarktet
Bei derlei Aktionismus des Verkehrsdirektors müsste man eigentlich auch mit entsprechenden Resultaten rechnen können. Als Kurt Illi am 1. Februar 1978 das Zepter des Luzern-Verkäufers im lokalen Verkehrsverein übernahm, wurden in der Stadt 880000 Logiernächte registriert. Nun sind es noch 869000 – und im ersten Halbjahr 93 ist die Zahl gegenüber 1992 um 2,8 Prozent weiter abgesackt. Sicher, da gab es bessere Illi-Zeiten mit über einer Million Übernachtungen, aber diese Grenze hatte sein Vorgänger auch schon einmal fast überschritten. Überhaupt stehen die offiziellen Tourismuszahlen in krassem Widerspruch zum Image des erfolgreichen Sales Managers Kurt H. Illi, der Luzern wie ein Stück Seife weltweit verkitscht: Mit seiner Neuausrichtung des Fremdenverkehrs hin zum Tages- und Billigtourismus hat er es geschafft, die Aufenthaltsdauer von 2,68 (1940) auf 1,85 Tage zu senken – und die Seife verbraucht sich immer schneller. Vergleichbare Schweizer Touristenstädte mit stilleren Verkehrsdirektoren verzeichnen immerhin noch Aufenthaltsdauern von 2,47 (Interlaken), 3,38 (Locarno), 2,33 (Lugano) und 2,85 Tagen (Montreux).
Also könnte der Stadt Luzern nach dem Brand ihres Wahrzeichens eigentlich nichts Besseres passieren als ein zehnjähriges Moratorium ohne Kapellbrücke – damit sie sich wieder erholen und auf sich selbst besinnen könnte. Am ehrlichsten wäre freilich der zynische Vorschlag des Innerschweizer Illustrators Godi Hofmann: Dort, wo einst die Historienbilder hingen, solle man nach dem Wiederaufbau der Brücke die Dreiecke im Giebel als Werbefläche für Luzerns Boutiquen, Souvenirläden und Schnellimbisse nutzen.